Rund 20 Orte erheben den Anspruch auf Walthers Heimat - nicht nur Bozen in Südtirol, sondern auch Würzburg und Frankfurt am Main. Doch die meisten Indizien sprechen für Walthers im Waldviertel .
Schon 1843 sprach sich der Berliner Universitätsprofessor Karl Lachmann dafür aus, Walthers Aussagen in seinen Texten, die auf Österreich verweisen, ernst zu nehmen. Um 1900 nahm der Historiker Josef Lampel erstmals das Waldviertel unter die Lupe – und fand in Urkunden auch eine bis dahin unbekannte Vogelweide im Allentsteiger Herrschaftsbereich und erwähnte auch das Dorf Walthers – die Zusammenhänge erkannte er jedoch nicht.
1981 fand in Stift Zwettl die Niederösterreichische Landesausstellung „Die Kuenringer - das Werden des Landes Niederösterreich“ statt. Für den Katalog zur Ausstellung verfasste der Germanist Bernd Thum von der Universität Karlsruhe einen vielbeachteten Artikel zur Suche nach Walthers Heimat. Als Grundlage diente ihm dabei dessen „Alterselegie“. Daraus schloss Thum, dass Walther nur aus dem niederösterreichischen Waldviertel kommen könne.
Um 1985 forschte Walter Klomfar an Ortwüstungen, also Orten, die aufgegeben wurden und von der Landkarte verschwanden. Im Archiv des Zisterzienserstifts Zwettl entdeckte er eine Landkarte aus dem Jahre 1656, in der zwischen Allentsteig und Zwettl ein Dorf namens Walthers mit einer östlich daran anschließenden Vogelweide eingezeichnet ist. Anhand einer ganzen Kette von Indizien konnte Klomfar in weiterer Folge zeigen, dass Walther von der Vogelweide mit großer Wahrscheinlichkeit in diesem Dorf seine frühen Lebensjahre verbracht hat.
Helmut Birkhan, emeritierter Universitätsprofessor und lange Jahre Vorstand des Instituts für Germanistik an der Universität Wien, schätzt die Wahrscheinlichkeit, dass Walter Klomfars Theorie korrekt ist, auf 70 bis 80% gegenüber allen anderen Theorien.
Schon seit Jahrhunderten wird in Mitteleuropa nach der Heimat und auch der Herkunft Walthers von der Vogelweide gesucht. Der wichtigste Hinweis darauf ist zweifellos Walthers eigene unmissverständliche Aussage in einem seiner Gedichte:
„In Österreich lernte ich Singen und Sagen“ (L 32,14)
Was um das Jahr 1200 als „Österreich“ bezeichnet wurde, war im Wesentlichen ein Großteil des heutigen Niederösterreich mit Wien und dem Waldviertel – weitab von Südtirol und weitab auch von den anderen Bewerbern um die Heimat Walthers von der Vogelweide in Mitteleuropa.
Für die Residenzen der Babenberger-Herzöge, die damals Österreich regierten, lag das Waldviertel sozusagen vor der Haustür. Und genau in diesem Waldviertel deuten zahlreiche Fakten darauf hin, dass hier nicht nur die Heimat, sondern auch die Herkunft Walthers von der Vogelweide zu suchen ist.
Die auf einem Felsen über der Thaya thronende Burg Raabs
Das Gebiet der Grafschaft Raabs im Hochmittelalter
Im nördlichsten Teil des Waldviertels, der Grenzlandregion zwischen Böhmen und Österreich, die im Mittelalter als „versus Boemiam“, („gegen Böhmen zu“) bezeichnet wurde, befand sich Anfang des 12. Jahrhunderts das große Gebiet der reichsunmittelbaren Grafschaft Raabs mit ihrer gleichnamigen Burg an der Thaya (ganz im Osten der Grafschaft gelegen), zwischen dem Herzogtum Böhmen und der Mark Österreich gelegen.
Die Grafen von Raabs wurden um das Jahr 1105 mit der Burg Nürnberg, heute Deutschland, belehnt und als Burggrafen eingesetzt. In der Folgezeit schufen sie die Grundlage für ein umfangreiches Reichsterritorium, das um die Burg entstand und dann als die „Burggrafschaft Nürnberg“ bezeichnet wurde. Als mit Konrad II. von Raabs um 1191 der letzte Graf von Raabs ohne männliche Nachkommen starb, trat sein Schwiegersohn Friedrich I. von Zollern seine Erbschaft an. Ab der Mitte des 14. Jahrhunderts bezeichneten sich die Zollern als Hohenzollern. 1427 erwarb die Reichsstadt Nürnberg die Burggrafenburg.
Die Bedeutung der Grafschaft Raabs, die sich von West nach Ost über 50km erstreckte, lässt sich auch daran erkennen, dass sich im Tschechischen daraus der Name für Österreich entwickelte: mit „Rakousko“, ursprünglich „das Raabser Land“, wird später das Land südlich von Raabs – und heute ganz Österreich – bezeichnet (Stenzel 54).
Das Dorf Waldhers bei Raabs in der HHStA, Josephinische Landesaufnahme 1772-82
Das Dorf Waldhers bei Waldkirchen
In diesem – ursprünglich fast den ganzen nördlichen Teil des Waldviertels beherrschenden – Hoheitsgebiet der Grafschaft Raabs waren schon früh von den deutschen Kolonisten zahlreiche Ortschaften gegründet worden, darunter auch, neben Waldkirchen nahe der Burg Raabs, ein Dorf namens „Walthers“, später „Waldhers“ genannt.
Beim Namen dieses Dorfes handelt es sich um einen jener (in diesem Teil des Waldviertels häufig auftretenden) sogenannten „genetivischen Ortsnamen“, die nach ihrem jeweiligen Gründer – in diesem Falle von einem Mann namens Walther – benannt worden waren. Ursprünglich hieß dieses Dorf wahrscheinlich „das Dorf des Walther“ oder „Walthers Dorf“, woraus dann im Laufe der Jahre allmählich die Kurzform „Walthers“ – im Volksmund bis heute „Waldhersch“ oder „Waldhirschen“ – entstand.
Dieses heute noch bestehende Dorf bei Waldkirchen war nachweislich Sitz eines kleinen Adelsgeschlechts, dessen Mitglieder und auch deren zahlreiche Nachkommen Gefolgsleute der Raabser Burggrafen waren. In verschiedenen Urkunden wird hier noch um 1390 ein „Pilgreim vom Walthers“ genannt.
Ebenfalls ein Walther, vermutlich ein Nachkomme des Gründers von Waldhers dürfte es gewesen sein, der etwas später im nördlichsten Zipfel des Waldviertels, nahe dem heutigen Litschau, ein Dorf gründete. Natürlich gab auch er diesem Dorf seinen Namen, eben Walthers. Vermutlich zu Beginn des 13. Jahrhunderts dürfte Walthers jedoch bereits verödet gewesen sein, heute erinnert nur noch der Flurname „Waldhirschen“ und eine kurze Notiz in einer Urkunde von 1551 an dieses einstige mittelalterliche Dorf.
Diese beiden Orte scheiden als Heimat Walthers von der Vogelweide jedoch aus, da bei Walthers nahe Bernschlag zwischen Allentsteig und Zwettl, zahlreiche Indizien nahezu wie in einem Puzzle-Spiel zusammenpassen.
Diese Kartenskizze zeigt, dass alle drei „Walthers-Dörfer“ tatsächlich mehr oder weniger nahe der heutigen böhmischen Grenze liegen.
Franziszeische Landesaufnahme 1825
Wie aus seiner „Alterselegie“ zu schließen ist, verließ Walther von der Vogelweide seine Heimat bereits in jungen Jahren und sah sie jahrzehntelang nicht wieder. In dieser Zeit entstand in der Vogelweide der aus wenigen Häusern bestehende Weiler Perweis (auf Landkarten auch in der Schreibung Berweis), wobei umfangreiche Rodungen in Teilen der Vogelweide bis an den Ortsrand des Dorfes Walthers erfolgten.
Als Walther kurz vor seinem Lebensende noch einmal seine mutmaßliche Heimat besuchte, erkannte er sie nicht wieder. Ein großer Teil der Vogelweide, in der er dem Text nach mit seinen Spielgefährten Kindheit und Jugend verbracht hatte, war gerodet, graue Felder und armselige Bauernhütten beherrschten hier nun die Gegend.
Die ganze Trostlosigkeit dieser Situation kommt in Walthers ergreifender sogenannter „Elegie“ zum Ausdruck, für die er das typisch österreichische Nibelungenlied-Versmaß verwendete. Dieses eigentlich als Kreuzzugsaufruf geschaffene Werk war schon immer aufgrund seiner autobiographischen Versstellen – vor allem der Schilderung der „bereiteten Felder und des verhauenen Waldes“ (Vers 10) – für die Walther-Forschung besonders interessant.
Elegie
O weh, wie schnell sind doch entschwunden all meine Jahre!
Hab ich mein Leben geträumt oder ist es wahr?
Was ich jemals glaubte, dass es sei, war es das nicht?
Demnach habe ich geschlafen und weiß es nicht.
Nun bin ich erwacht und mir ist unbekannt,
was mir einst vertraut war wie meine eigene Hand.
Leute und Land, von denen ich als junger Mann weggezogen bin,
die sind mir fremd geworden, als ob es erlogen gewesen sei.
Die meine Spielgefährten waren, die sind träge und alt.
Angelegt ist das Feld, gerodet ist der Wald.
(L 124,1,1-10 Übersetzung Günther Schweikle, mit geringfügigen Änderungen)
Nur wenige Jahre nach diesem Gedicht dürfte Walther gestorben sein. Zugleich hatte aber auch der langsame Niedergang seines mutmaßlichen Heimatdorfes eingesetzt und um 1350 war Walthers schon völlig verödet.
Die Bezeichnung „versus Boemian“ („gegen Böhmen zu“) war für diese Gegend noch bis ins 15. und 16. Jahrhundert üblich. Selbst das in dieser Region liegende Städtchen Waidhofen an der Thaya wird in Urkunden des 17. Jahrhunderts noch als „Böhmisch-Waidhofen“ bezeichnet. Beim Betrachten dieser Karte gewinnt aber auch eine alte Nürnberger Meistersinger-Tradition aus dem 16 Jahrhundert eine völlig neue Bedeutung, in der es nämlich bei der Meistersinger der Meistersinger unter anderem heißt:
„der fünft her Walther hieß
war ein Landherr aus Böhmen gewiß
von der Vogelwaid war schön“
Johann Christoph Wagenseil, „Buch von der Meistersinger Holdseligen Kunst", 1697
Die Frage, woher denn ausgerechnet die Nürnberger Meistersinger dieses Wissen bezogen hätten, findet eine plausible Erklärung in der Tatsache, dass die Burggrafen von Raabs von 1105 bis um 1191 zugleich auch Burggrafen von Nürnberg waren. Nürnberg aber war bekanntlich schon früh eine Hochburg der Meistersinger, 1392 wird hier der bekannte Meistersinger Fritz Kettner genannt und einer ihrer berühmtesten, nämlich Hans Sachs, stammt ebenfalls aus Nürnberg, wo er 1494 geboren wurde.
Das mittelalterliche Dorf Walthers in einer Illustration auf Basis der historischen Karten, Gustav Krippl 1999
Das Dorf Walthers gehörte ursprünglich zum Herrschaftsbereich des Allentsteiger Burgherren. Durch Verkauf und Wiederverkauf von Lehen und Hofstätten gelangte das Dorf Walthers bzw. das Gebiet der Ortswüstung im Lauf von Jahrhunderten zunehmend in den Besitz des nahegelegenen Klosters Zwettl und damit in das Gebiet der heutigen Großgemeinde Zwettl.
Die heutige Ortswüstung Walthers dürfte nur eines von mehr als zehn wieder aufgegebenen und verschwundenen Dörfern in der Umgebung von Allentsteig sein (Krenn 24).
Warum wurde das Dorf Walthers zwischen Allentsteig und Zwettl aufgegeben?
Ortswüstungen, also Orte, die einmal existiert haben, jedoch wieder aufgegeben wurden, gibt es viele, auch in Niederösterreich. Eine der bekanntesten davon ist die Wüstung Hard bei Thaya, die 1976 entdeckt und 1977 bis 1989 als einzige in Österreich zur Gänze freigelegt wurde.
Mauern der mittelalterlichen Wüstung Hard bei Thaya
Vermutliche Mauerreste auf der mit Fichtenwald bewachsenen südlichen Dorfseite von Walthers. Seit 2022 ist der Wald durch Sturmriss stark gelichtet.
Walthers bei Bernschlag wurde um 1175 gegründet und um 1350 aufgegeben und verlassen, sodass es heute als „verödet“ bzw. als „Wüstung“ bezeichnet wird.
Das Dorf Walthers gehörte ursprünglich zum Herrschaftsbereich des Allentsteiger Burgherren. Durch Verkauf und Wiederverkauf von Lehen und Hofstätten gelangte das Dorf Walthers bzw. das Gebiet der Ortswüstung im Lauf von Jahrhunderten zunehmend in den Besitz des nahegelegenen Klosters Zwettl und damit in das Gebiet der heutigen Großgemeinde Zwettl. Aus den Besitzverzeichnissen im Stiftsarchiv Zwettl zwischen 1280 und 1346 lassen sich sowohl die Veränderung der Besitzverhältnisse als auch die fortschreitende Verödung des Dorfes ab etwa 1300 ablesen. (Klomfar 2002, 21)
Die heutige Ortswüstung Walthers dürfte nur eines von mehr als zehn wieder aufgegebenen und verschwundenen Dörfern in der Umgebung von Allentsteig sein (Krenn 24).
Warum das Dorf nach kaum zweihundert Jahren wieder aufgegeben wurde, hat vermutlich mehrere Gründe. Walthers liegt auf einer nach Westen ebenen Hochfläche etwa 580m ü.A. Nach der Rodung der Wälder könnte Walthers der Schutz vor starken Westwinden gefehlt haben und sich aufgrund allgemeiner klimatischer Schwankungen eine ungünstige Entwicklung bei Wasser und Ernte gezeigt haben.
Die Geschichtsbücher verzeichnen für die Jahre 1315 bis 1317 mehrere Missernten, die Hungersnöte und einen Bevölkerungsrückgang zur Folge hatten, woraus sich Landflucht und die Bildung von Wüstungen, von verlassenen und verfallenden Dörfern, ergab.
Verschärft wurde der Bevölkerungsrückgang durch die Pest, die Mitte des 14. Jahrhunderts in ganz Europa ausbrach. Das Waldviertel war 1349 von der als „Schwarzer Tod“ bezeichneten Pestepidemie betroffen, einer der verheerendsten Pandemien der Weltgeschichte, der ein Drittel der damaligen Bevölkerung zum Opfer fiel.
Obwohl der Ort aufgegeben wurde, ist Walthers noch auf einer Landkarte von 1656 im Stift Zwettl und 1825 im Franziszeischen Kataster verzeichnet.